Ein Mädchen in meinem Sportkurs. Sie hat den Armumfang einer 10-jährigen, bei geschlossenen Füßen einige Zentimeter Abstand zwischen den Oberschenkeln, die Knochen sind umgeben von Muskeln statt auch nur einem Gramm Fett. Sofort blitzen Begriffe in meinem Kopf auf. "Essstörungen. Magersucht. Wieso machst du auch noch Sport und isst nicht einfach mal was?" Noch letzte Woche hatte ich A. hinter vorgehaltener Hand auf sie aufmerksam gemacht, sie immer wieder kritisch beobachtet. Heute ist A. krank. Heute steht das Mädchen neben mir. Heute spricht sie mich an. Ob ich mal Leichtathletik gemacht hätte, ich sähe so aus. Verdutzt erkläre ich ihr, dass ich zwar gerne Sport mache, aber nichts spezielles. Und vor allem keine Leichtathletik! Sie lächelt und berichtet, dass auch sie verschiedene Sportarten betreibt. Und mir fällt nichts besseres ein als zu antworten: "Ja, du siehst auch aus, als würdest du viel Sport machen." Geht es unsensibler? Es war auf ihr Durchhaltevermögen, ihre Muskeln bezogen, als Kompliment gemeint. Wie muss sie es aufgefasst haben? Es bleibt keine Zeit, etwas hinzuzu-fügen. Hanteln holen!
Beim Umziehen versuche ich, ein Gespräch zu beginnen, ihr zu zeigen, dass mein Kommentar nicht böse gemeint war. Und sie haut mich komplett um. Sie erzählt von ihrem Studium, ihrem Engagement, ihrem Verlangen, etwas zu bewegen. Behauptet mit voller Überzeugung, dass man alles erreichen kann, als ich Zweifel über meine Berufschancen durchblicken lasse. Ich bin selten einem Menschen mit so viel Lebensmut, Kraft und Freude im Herzen begegnet. Wie hatte ich sie ihrem Aussehen nach eingeschätzt? Schwächlich, unsicher, zurückhaltend? Und schon bin ich zu einer Wanderung und einem ihrer Vorträge eingeladen. Als ich ihr auf dem Heimweg hinterher sehe, dreht sie sich um, lächelt, fragt, wie ich eigentlich heiße. "Ich bin Mandy." ruft sie mir zu und lässt mich allein auf dem schwach beleuchteten Fußweg zurück. Ein wenig verwirrt von ihrer etwas aufdringlichen Einladung und doch fasziniert vom Wesen dieses Menschen.